Der tragende Mensch – Homo Portans

Der tragende Mensch – Homo Portans - Trageprotokolle

Trageprotokolle

Tragen ist ein Alltagsphänomen. Jeder Mensch verfügt über sehr unterschiedliche Erfahrungen und Assoziationen, sowohl was das eigene Tragen anbelangt, als auch seine Bewertung, wie oder was andere Menschen tragen.

Für den Auftakt des Projekts „homo portans“ zum deutschen Historikertag haben wir nach einer Möglichkeit gesucht, diese Alltagserfahrungen sichtbar zu machen - die Faszination des Selbstverständlichen durch einen kreativen Beitrag zu verdeutlichen.

Dazu haben wir künstlerische Trageprotokolle entwickelt, die Sie am Ende dieses Artikels in der Galerie finden.

Im Trageprotokoll dokumentieren zehn Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Lebenszusammenhänge eine Woche lang ihre Tragegewohnheiten: Sie wurden aufgefordert, sich eine Waage in die Nähe der Eingangstüre zu stellen und regelmäßig beim Kommen und Gehen zu wiegen, was sie an Lasten mit sich führen und welche Taschen, Tüten, Rucksäcke usw. sie dafür verwenden. Die Ergebnisse wurden in Listen eingetragen und eine tägliche Tagessumme festgehalten. Nach Abschluss der Woche wurde noch im Gespräch festgehalten, welche Erkenntnisse daraus gezogen werden können.

An welchen Tagen wurde z.B. besonders schwer oder viel getragen? Gab es Präferenzen für Behälter und Gelegenheiten. Wurde z.B. der Einkauf eher mit dem Rucksack oder mit einer Plastiktüte gemacht?

Ein weiter Aspekt des Feedbacks nach Abschluss der Woche war, inwiefern sich das Bewusstsein während der Woche verändert hat oder ob besondere Ereignisse eingetreten sind. Hat man doch genauer überlegt, was man alles unbedingt mit sich tragen muss? Wurde der Laptop zu Hause gelassen und nur ein USB-Stick mitgenommen? Ist auf einmal hinterfragt worden, ob man statt der unbequemen aber schicken Umhängetasche doch besser den weniger schicken aber ergonomisch sinnvolleren Rucksack nehmen könnte?

Zur Erläuterung sei noch gesagt: Es handelt es sich bei dieser kleinen „Erhebung“ eher um ein künstlerisches denn um ein wissenschaftlich Projekt.  Wir wollten uns dabei auf wenige Schwerpunkte konzentrieren und haben z.B. nicht dezidiert danach gefragt, was genau getragen wurde, sondern nur wie schwer es war.

In den Gesprächen aber selbst auch an den nüchternen Zahlen der Listen konnten wir je nach Träger markante Trageprofile feststellen:

Die Seniorin geht oft einkaufen und trägt dann jedes Mal vergleichsweise wenig Gewicht. Wenn am Wochenende Gartenarbeit ansteht, steigt die Tagessumme merklich.

Die Mutter hingegen bewegt die Woche über sehr viel Gewicht: Zum Einkauf oder anderen Besorgungen ist immer automatisch das Kind auf dem Rücken.  Es wird täglich mehrmals drei Altbaustockwerke rauf oder runtergetragen. Entspannung gibt’s am Wochenende – hier teilt sich vermutlich die Last dann wieder auf mehrere Familienmitglieder auf.

Die kleinen und großen Schüler stöhnen über zu schwere Ranzen – trotz Schließfächern in der Schule muss hier viel hin und her getragen werden. Vor allem, wenn auch noch Hobbies im direkten Anschluss an die Schule stattfinden wird’s besonders schwer und mühsam. Die Schülerin mit dem Cello versucht dem zu entgehen, indem sie sich mit der Mutter und deren Arbeitswegen abspricht. Sie wird mit Cello auf dem Rücken immer mal wieder von Passanten angesprochen mit dem üblichen: „Blockflöte wär leichter oder?“ Das nervt sie.

Die Professorin pendelt zwischen zwei Wohnstandorten und ist zudem viel unterwegs – sie hat zwar einen immer sehr schweren Koffer auf Rollen – aber auch dieser will über Treppen in Züge usw. getragen werden.

Die Kunstlehrerin hat einen klassischen Tragejob: Sie befördert täglich umfangreiches Unterrichtsmaterial von und zur Schule. Sie erzählte von einem Aha-Effekt während des Trageprotokolls: Ihr war die Tasche vom Fahrrad gestohlen worden und so ging sie am nächsten Tag nur mit USB-Stick und Krokotäschchen der Großmutter zur Schule – zu ihrem Bedauern ließ sich dieser leichte Luxus nicht fortsetzen. In Anlehnung an unsere Aktion, das Tragen mehr ins Bewusstsein zu rücken, gab sie den Anstoß für den monatlichen Mottotag der Schule: „Eimer statt Schultasche!“ Diesem Aufruf sind tatsächlich einige Schüler gefolgt. Sie erwähnt auch eine historische Dimension: Zu DDR-Zeiten kauften Frauen häufig während des Arbeitstags ein – dies wurde toleriert und war zum Teil der Versorgungslage geschuldet. Die schwer mit Einkaufsbeuteln beladenen Frauen am Feierabend sind aus dem Alltag verschwunden – heute wird eher am Wochenende und mit dem Auto eingekauft.

Aber auch dabei wird nach wie vor schwer geschleppt: Diejenigen Tragekandidaten, die in Häusern ohne Aufzug und in oberen Stockwerken leben – also jeden Einkauf, Getränkekisten usw. zu Fuß befördern – sind die Spitzenreiter des Tagesgewichts.

Als aktuelle Ergänzung zu den Trageprotokollen wurden an den Eingängen des Veranstaltungsraums für die Sektion Homo Portans Wiegeschleusen eingerichtet, an denen die Teilnehmer ihre Taschen wiegen und das Ergebnis protokollieren ließen.

Alle Beiträge – die Wochenprotokolle und auch die spontane Einbindung der Tagungsbesucher – liefern eine Fülle von Informationen und ganz persönlichen Aha-Momenten.

Ausstellung der Plakate

 

Aktion Wiegeschleuse
Text und Foto folgen

www.homo-portans.de     
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